Auf einem einzigen Blatt Papier von Mirna Funk

Jonathan ist ein Individuum, das weder Vergangenheit noch Zukunft besitzt. Sein Dasein manifestiert sich vollständig auf einem einzigen Dokument, das fortwährend verändert und neu geschrieben wird. Seit seiner Geburt hat Jonathan niemals das Land Israel verlassen. Ein Ausreisen ist ihm unmöglich, da er nicht in seinem eigenen Körper lebt. Ihm fehlt quasi eine physische Hülle, um Reisen zu unternehmen, Werke zu schaffen oder soziale Interaktion zu pflegen. 

Jonathan ist lediglich ein flüchtiger Hauch, eine ungreifbare Sphäre, die ausschließlich als Reaktion existiert. Von ihm geht keine Initiative aus; nur Resonanz auf äußere Anreize, Personen und Ereignisse. Sein Leben verläuft getrennt von den Strömungen der modernen Welt, die geprägt ist von zahlreichen Optionen, Vernetzung, Reisen und Selbstfindung. In ihm spiegelt sich ein radikales Gegengewicht zur aktuellen Gesellschaft wider, und dennoch liefert er wertvolle Einsichten in ebenjene.

In der heutigen Ära scheint alles um Selbstoptimierung zu kreisen, der feste Glaube daran, dass jeder Mensch alles erreichen und jede Rolle annehmen kann, überwiegt. Man ist überzeugt, ständig von vorne beginnen zu können, verschiedentlich innerhalb eines einzelnen Lebens zu agieren. Die Annahme völliger Freiheit ist tief verankert. Auch Jonathan, die zentrale Figur des Hörstücks, hält sich für ungebunden. Läuft sein Leben nicht wunschgemäß, glaubt er an die Möglichkeit eines Neustarts. Er ersetzt seinen Namen, ändert seine Garderobe, sucht neue berufliche sowie private Wege. Das gesamte Lebensumfeld wird transformiert, in der Hoffnung auf grundlegende Erneuerung. Doch diese Illusion trügt. Denn ein echter Neuanfang bleibt uns verwehrt. Wir schleppen unsere persönlichen Geschichten, Verletzungen und Erfahrungen stetig mit uns. Unser ganzes Leben lang verbleiben sie ein Teil von uns, untrennbar. 

Zum Autor

Die 1981 in Ost-Berlin geborene Mirna Funk ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie schreibt Artikel und Essays für diverse Magazine und Zeitungen. Zu ihren Auszeichnungen zählt unter anderem der Uwe-Johnson-Preis von 2015. Ihr Roman "Winternähe" erschien ebenfalls im Jahr 2015.